Die Musikschule

(Beginn einer längeren Erzählung)

 

 

1

 

Am 25. Juli 1934, dem Tag, an dem der österreichische Bundeskanzler Dollfuß von den Nationalsozialisten ermordet wurde, geschah in der Musikschule „Alsergrund“ im neunten Wiener Gemeindebezirk, gegen 12.30 Uhr, der erste von zwei Morden.

 

Er geschah, als der jüdische Pianist Arthur Grünstein in seine Mittagspause ging. Ein seltsamer Todeshauch lag in der schwülen Sommerluft, als der Klavierlehrer zum letzten Mal in seinem Leben das Mittagslicht und den herab prasselnden Regen erblickte.

 

„Ich möchte jetzt gerne in die Mittagspause gehen, aber blödsinnigerweise macht mir dieser unerwartete Gewitterregen einen Strich durch die Rechnung!“, sagte der sonst so fröhliche Grünstein ein wenig genervt.

 

Zoltan Szabo, sein ungarischer Kollege und Geigenlehrer an derselben Musikschule, kam gerade in das Konferenzzimmer herein und hatte Grünsteins Worte gehört.

 

„Du kannst meinen Regenmantel haben, Arthur, wenn du möchtest. Ich habe ein spezielles Gespür für das Wetter, mein Lieber. Ich muss sofort noch etwas erledigen, was ich vergessen habe. Das heißt, dass meine Mittagspause heute leider ausfallen wird. Geh nur!“

 

Zoltan Szabo ging zum großen Fenster des Konferenzzimmers und blickte hinaus auf die Straße. Draußen marschierten gerade einige laut singende und brüllende Gruppen junger Männer mit Hakenkreuzbinden vorbei, und zwar in Richtung Innenstadt.

 

„Willst du nicht doch noch ein bisschen warten mit deiner Mittagspause?“, fragte Szabo nachdenklich.

 

„Nein, ich gehe jetzt! Ich bin kein Feigling und auch nicht aus Zucker!“, erwiderte Grünstein kopfschüttelnd, nahm den beigen Regenmantel von der Kleiderablage, zog ihn an und verließ den Raum.

 

 

2

 

Zum selben Zeitpunkt schließt sich, lautlos, die Tür des hintersten Zimmers im zweiten Stockwerk der Musikschule „Alsergrund“. Im Raum befindet sich die 17-jährige Luise Weber, eine langjährige Geigenschülerin, mit einem Cello in Händen. Sie hat diesen Raum ganz bewusst ausgewählt, da dort, in den Ferien, die Celli gelagert werden. Mit der ganzen ihr zur Verfügung stehenden Kraft hievt sie das schwere Musikinstrument auf das Fensterbrett des einzigen Fensters, von dem aus man die Straße vor der Musikschule gut überblicken kann. Zuerst wirft sie flüchtige, aber dennoch scharfe Blicke aus dem Fenster und dann – das Cello!

Das Cello aber fällt genau auf Arthur Grünstein!

 

Luise schlägt das Fenster zu, zieht sich sofort zurück und ihr ist nicht klar, ob ihr Plan aufgegangen ist. Sie weiß zumindest, dass sie es versucht hat. Sie hofft, dass sie bei ihrer Tat, die genau genommen eine reine Verzweiflungstat gewesen ist, niemand gesehen hat, aber auch, dass ihr verhasster Geigenlehrer Zoltan Szabo den Mordanschlag nicht überlebt hat!

 

Angespannt lauscht sie an der einen winzigen Spalt breit geöffneten Tür, bis sie draußen kein Geräusch mehr hört. Vorsichtig öffnet sie die Tür und eilt mit laut pochendem Herzen geschwind den langen Gang hinunter. Schließlich konnte, obwohl Ferien waren, jederzeit irgendjemand hier auftauchen. Da Luise die Musikschule gut kennt, weiß sie am besten, wie sie schnell und unbemerkt aus ihr entwischen kann. Ihre flinken Beine tragen sie instinktiv die Treppen hinab und durch eine schmale Hintertür hinaus, welche in eine kleine verwinkelte Seitengasse führt.

 

Sie bleibt, um nicht nass zu werden, in einem Hauseingang stehen, und weiß noch nicht, was sie in weiterer Folge tun soll. Plötzlich fasst sie den Entschluss, zum Eingang der Musikschule zu gehen, nachdem der Schrei einer vorbeigehenden Frau sie aus ihren Gedanken gerissen hat. Wie ferngesteuert setzen sich ihre Beine in Bewegung und tragen das Mädchen zügig zum Tatort zurück, wo sich, trotz des Regens, schon eine große Menschentraube gebildet hat, und zeitgleich mit Luise trifft auch schon die Polizei ein. Es ist ein Horror für sie, denn sie hat überhaupt nicht erwartet, dass die Polizei so schnell kommen würde, wobei sie die Angst packt und sie stumm vor Schreck macht.

 

Sie drängt sich mit laut und schnell pochendem Herzen an einigen Leuten vorbei, um besser sehen zu können; da erblickt sie das zerschmetterte Cello, und daneben den Leichnam im hellen Regenmantel. Auf einmal verschwindet das Lächeln aus ihrem Gesicht, da sie in dem Toten Herrn Grünstein, den Klavierlehrer, erkennt!

 

Panisch blickt sie sich um, schauen die Menschen unter den Regenschirmen um sie herum sie nicht komisch an, oder bildet sie sich das nur ein? Nein, sie weiß ganz sicher, dass sie alle komisch anschauen! „Sie wissen es! Sie wissen alles!“, schießt es Luise durch den vom Regen ganz nassen Kopf, und sie befürchtet, dass die Polizei sie gleich festnehmen und in Handschellen abführen wird.

 

„Ich muss hier so schnell wie nur möglich weg! Unfassbar! Nein, das ertrage ich nicht länger! Ich habe Grünstein umgebracht! Den netten Herrn Grünstein! Grünstein, nein!“, schießt es durch ihren Kopf und sie wendet sich rasch ab, ihr Gesicht weiß wie Kreide.

 

Der Regen hat aufgehört.

 

Luise läuft weg, bis zur nächsten Straßenbahnstation.

 

Sie fährt, ganz verstört, mit der Straßenbahn nach Hause, wo sie zuerst trockene Kleidungsstücke anzieht und sich ihre langen dunkelblonden Haare trocken reibt.

 

Ihre Eltern sind nicht da.

 

Sie ruft ihre beste Freundin an und will ihr erzählen, was Furchtbares geschehen ist.

 

Zitternd steht sie neben dem Telefon und wartet darauf, dass die Freundin endlich den Hörer abnimmt. Gerade als sie auflegen möchte, hebt die Stiefmutter ihrer Freundin genervt ab:

 

„Hallo, hier spricht Edelbauer. Was wünschen Sie?“

 

„Hallo … Hier ist Luise Weber … Kann … Kann ich bitte Clara sprechen? Es wäre dringend!“, sagt sie mit zitternder Stimme.

 

„Aha, du bist es, Luise. Einen Augenblick bitte!“, erklärt die mürrische Frau Edelbauer.

 

Es folgen ein paar Geräusche, die nicht zuzuordnen sind, und schließlich, nach zirka einer Minute, geht Clara an den Apparat:

 

„Hallo, Luise. Was gibt’s? Du wolltest doch erst morgen anrufen!“

 

„Hallo, Clara, ich muss unbedingt mit dir sprechen. Sofort!“, schluchzt Luise in das Telefon.

 

„Was ist passiert? Hat dein Vater wieder etwas Beleidigendes gesagt?“

 

„Nein. Das ist es nicht. Leider … Wann können wir uns wo treffen? Ich brauche dich wirklich dringend!“, entgegnet die verzweifelte Luise.

 

„Treffen wir uns um 2 Uhr in Schönbrunn beim Haupteingang des Schlosses? Wir können dann in den Schlosspark gehen. Früher kann ich nicht weg. Du weißt schon, warum“, antwortet Clara mit gedämpfter Stimme.

 

„Danke, danke dir. Gut. Ich werde dort sein!“, verspricht Luise.

 

„Mach’s gut. Dann bis später!“, sagt Clara.

 

Dann legen beide den Hörer auf.

 

„Also, was hast du auf dem Herzen?“, fragt Clara mitfühlend, als sie durch den Schlosspark spazieren, in dem nur sehr wenige Menschen unterwegs sind.

 

Panisch antwortet Luise, nachdem sie in alle Richtungen geblickt hat:

 

„Ich … Ich … Ich habe ihn heimgeschickt. Ja, aber leider den Falschen! Schrecklich!“

 

„Wie bitte? Was soll das bedeuten? Hast du wirklich? Also, was jetzt?“, stottert Clara, während sie blass im Gesicht wird.

 

„Ja, ich habe versucht, ihn umzubringen, und hatte alles perfekt vorbereitet, sogar den Fluchtweg. Aber ich habe einen Unschuldigen getroffen. Grünstein … Leider, leider, leider!“, erklärt Luise ihrer Freundin.

 

„Nein! Das ist nicht wahr! Wen hast du? Wen hast du … Heim … Heim … Heimgeschickt?“, stammelt Clara schockiert. Ihre Pupillen weiten sich, während sie ihrer Freundin ins Gesicht blicken muss. Sie kennt die Antwort, bevor noch ein Wort ausgesprochen werden muss.

 

Luise stürzt mit einem schrillen Aufschrei plötzlich zu Boden und benetzt das Gras mit reuevollen Tränen:

 

„Ja, es war Grünstein. Ich gebe es zu. Er hat den hellen Regenmantel getragen, ich habe geglaubt, Zoltan war es, und habe das Cello hinabgeschleudert. Ich wusste ja, dass er um diese Zeit immer seine Mittagspause macht. Aber es war Grünstein, der Zoltans Mantel angehabt hat! Es tut mir so leid, wirklich. Du warst doch einmal in Grünstein verliebt, oder? Egal … Ich war so verzweifelt und habe keine andere Möglichkeit mehr gesehen als diesen Mord, das weißt du ja. Zoltan ist meine Liebe immer egal gewesen. Er ist verheiratet. Er ignoriert mich total. Nein, ich konnte nicht anders! Aber der arme, unschuldige Grünstein … Wie soll ich nur mit dieser großen Schuld fertigwerden …?“

 

„Moment, Luise! Vergiss doch einmal diese blöden Schuldgefühle! Sag mir lieber, ob dich bei der Tat jemand beobachtet hat? Oben, am Fenster?“, fragt Clara und hilft Luise beim Aufstehen.

 

„Ich hoffe nicht … Aber sicher bin ich mir nicht, nein …!“, antwortet Luise.

 

Sie gehen weiter, hinein in einen schmalen, menschenleeren Seitenweg.

 

„Du musst schleunigst Beweise vernichten, bevor es dafür zu spät ist!“, rät Clara.

 

„Du bist gut. Und wo und wann soll ich denn anfangen, bitte?“, fragt Luise ängstlich.

 

„Beruhige dich jetzt und hör zu. Die Polizei wird als Erstes versuchen herauszufinden, wer aller Zugang zu dem Celloraum hat. Klar? Gut. Vor allem aber brauchst du ein absolut stichfestes Alibi. Du musst eine schlüssige Geschichte erfinden, was du zum Tatzeitpunkt getan hast und wo du gewesen bist, womöglich mit Zeugen. Überlege dir, welche Spuren vielleicht auf dich zurückfallen könnten!“, erklärt Clara und legt ihren rechten Arm um Luises Schultern.

 

„Willst du für mich aussagen, falls ich befragt werden sollte, dass wir uns heute Mittag getroffen haben? Ich kann mich doch immer auf dich verlassen, oder?“

 

„Natürlich, Luise, jederzeit. Wir müssen jetzt einmal abwarten, ob dich die Polizei überhaupt befragen wird, verstehst du? Ob du verdächtigt wirst, sozusagen!“

 

„Ja, ja, ja … Gut. Dann gehen wir jetzt gleich zurück zur Musikschule und beseitigen im Celloraum alle Spuren! Habe ich vielleicht gar das Fenster offen gelassen? Keine Ahnung. Der Raum ist in den Sommerferien niemals zugesperrt, wie du weißt. Los, gehen wir!“, sagt Luise und beschleunigt ihre Schritte.

 

Der Himmel ist fast wolkenlos. Es ist drückend heiß. Das nächste Gewitter droht bereits.

 

„Bist du schon ganz verrückt, Luise? Wir können doch jetzt nicht dorthin! Wir warten ab. Das ist das Allerbeste. Nichts überstürzen. Panik ist niemals gut. Ruhe bewahren!“, wendet Clara ein und führt Luise zu einer Parkbank.

 

Sie setzen sich hin.

 

„Ja, du hast vollkommen recht, Clara. Danke. Abwarten ist jetzt sicherlich das Allerallerbeste!

 

Abwarten, was die Polizei unternimmt. Ob sie mich überhaupt befragen wird? Jetzt weiß ich natürlich, dass du mir kein Alibi geben kannst, weil du mittags bei deiner Mutter, also Stiefmutter, zu Hause gewesen bist. Die würde da nicht mitspielen. Das kann ich verstehen. Wichtig ist nur, dass mich dort niemand gesehen hat. Ja, das ist das Allerwichtigste! Das macht mir am meisten Angst, glaub mir. Der arme, arme Grünstein. Das habe ich nicht gewollt! Niemals! Gott ist mein Zeuge! Wie soll ich das nur seelisch verarbeiten, Clara, verstehst du …?“, sagt Luise mit leiser Stimme, in der große Verzweiflung zu hören ist, schüttelt den Kopf und blickt nachdenklich zu Boden.

 

„Nein, ich kann dir leider kein Alibi geben. Unmöglich. Wenn ich allein zu Hause gewesen wäre, dann ja. Aber du bist doch sehr kreativ, Luise. Lass dir etwas Passendes einfallen, um gut aus dem Schneider zu kommen!“, erwidert Clara und legt nochmals den Arm um Luises Schulter.

 

Langsam geht ein älteres Ehepaar vorüber.

 

„Ich glaube, ich habe da eine gute Idee. Abwarten. Aber bevor mir niemand auf die Fährte kommt, brauche ich daran keine weiteren Gedanken verschwenden. Genau …“, grübelt Luise halblaut vor sich hin, und ein schwaches Lächeln zeigt sich kurz auf ihren Lippen.

 

„Na, wie wäre es, wenn wir jetzt zum Abschluss noch in unser Stammcafé gehen und uns ein Eis genehmigen? Wir ... Ich meine, du darfst jetzt nur nicht panisch werden. Abwarten, abwarten, was die Polizei macht. Na, gehen wir?“, will Clara hoffnungsvoll wissen.

 

„Nun … Ja, warum denn nicht? Ich muss ohnehin ein wenig auf andere Gedanken kommen. Los!“, sagt Luise und springt plötzlich auf, ihr ganzes Wesen neu belebt, von der Parkbank mit schnellen Schritten wegstrebend. „Komm, nimm mich kurz in den Arm, mir schwindelt nämlich ein wenig, liebe Clara …“

 

 

Am Abend desselben Tages sitzt Familie Weber bei Tisch und isst. Herr Bankdirektor Weber, seine Frau Eleonore, Luise und ihre beiden Brüder Kasimir und Eduard. Es herrscht Stille, in die hinein Herr Bankdirektor Weber plötzlich, nach einem lauten Seufzer, mit lauter, tiefer Stimme sagt:

 

„Was für ein rabenschwarzer Tag für unser über alles geliebtes Österreich. Die Nazis haben heute unseren hochgeschätzten Kanzler Dollfuß hinterrücks ermordet! Wo soll das noch hinführen? Da bekommt man richtig Angst!“

 

„Schön langsam mache ich mir auch Sorgen um unsere drei Kinder. Ich hoffe, dass ihnen nichts passieren wird. Du hast jedenfalls recht, Adalbert. Wo soll das alles noch hinführen? Was ist mit dir, Luise? Was hast du den ganzen Tag gemacht?“, fragt die Mutter besorgt.

 

„Am Vormittag habe ich zwei Stunden lang gelesen, und dann habe ich mich, so gegen halb zwei Uhr, mit Clara in Schönbrunn getroffen. Wir haben einen Spaziergang gemacht und dann sind wir noch in unser Stammcafé zum Zwickler auf ein Eis gegangen“, erzählt Luise angestrengt, jedoch ohne sich etwas anmerken zu lassen.

 

Der jüngere der beiden Brüder, Eduard, beginnt seinen Vater sofort über den Dollfußmord zu befragen, doch er winkt ab, um seinem Sohn nicht unnötig Sorgen zu bereiten.

 

Nicht einmal die besorgte Mutter bemerkt, wie die rechte zarte weiße Hand von Luise, in der sie das Messer hält, leicht zittert.

 

 

An genau demselben Abend sitzen Kommissar Swoboda und sein Kollege Kratochwil in dem Favoritener Gasthaus „Zur roten Traube“, schon leicht betrunken und eine Zigarette nach der anderen rauchend, bei einer Flasche Rotwein.

 

„Sag, Kratochwil, hast du eigentlich schon vom Mord in der Alsergrunder Musikschule im neunten Bezirk gehört? Ein tragischer Tag für den jüdischen Spaßvogel am Klavier, nicht?“,

 

fragt Swoboda mit stark glänzenden, ins Leere blickenden Augen und einem höhnischen, lauten Lachen.

 

„Durchaus, Herr Kollege!“, entgegnet Kratochwil mit einem schiefen Grinsen.

 

 

Gemeinschaftsarbeit der Schreibakademie Horn vom Frühjahr 2019, entstanden unter Mitwirkung von: Anna-Maria Schierhuber, Bella Herzog, David Lischka, Lautaro Iriarte, Fabian Stummer und Rudolf Aubrunner.