Das Licht des Lebens

Ich hasse Ampeln. Nicht das Warten, sondern das Sirren und Piepen des kleinen Gerätes, wenn in dem Meer aus Fahrzeugen auf der Straße einmal Ebbe herrscht. Es schwirrt in meinem Kopf herum wie eine nervige Fliege in einem Zimmer. Und als diese Fliege an der nächsten Kreuzung um meinen Kopf zu fliegen beginnt, wende ich ihr meine volle Aufmerksamkeit zu. Versuche sie in Gedanken zu erschlagen. Die echte Welt besteht nur noch aus ein paar ungeduldigen Stößen und vorbeieilenden Schatten. Dank der Ampel keine Autos. Trotzdem bleibe ich immer noch stehen, aber durch Dastehen entkomme ich dem Piepen nicht, also zwinge ich meine Beine sich zu bewegen. Nach dem ersten Schritt wird das Geräusch leiser. Nach dem zweiten ist es weg. Wahrscheinlich bin ich schon taub geworden, normalerweise hält es ewig an. Ich gehe weiter, Grau und Weiß wechseln sich träge unter meinen Füßen ab. Rotes Licht reflektiert matt in den weißen Streifen. Mein Blick schweift nach vorne. Das Licht der Ampel ist zwar genau vor mir, aber noch weit weg. Keine Gefahr also. Ich will einen Blick auf meine zerkratzte Armbanduhr werfen, aber das Licht der untergehenden Sonne spiegelt zu stark auf dem Glas. Und da waren Punkte. Kleine, helle Punkte. Sie bewegten sich, wurden größer und kleiner. Immer paarweise. Ein Paar kam näher. Wurde größer und greller. Zu grell, ich musste den Blick vom Glas abwenden. Doch ich wurde immer noch geblendet. Es kam von links. Schweinwerfer. Ein Auto. Ich mitten auf der Straße. Jetzt kann ich verstehen. Ich bewege mich. Diesmal schneller. Mein Rucksack klopft gegen meinen Rücken, meine Schritte auf dem aufgeheizten Asphalt. Ich höre Motoren, die Fahrzeuge und mein Herz. Keiner kommt zum Stillstand. Bremsspuren auf den glänzend weißen Streifen am Boden. Kein Bremsen, nicht jetzt, nicht ich. Das Auto wird es auch nicht tun. Niemand wird etwas tun. Mein Blick geht wieder nach vorne, doch er bleibt nirgendwo hängen. Verschwommene Blitze von Licht und Bewegungen. Ich bekomme nichts zu fassen, keine helfende Hand, kein Schimmer, der mich anführt. Alles geht viel zu schnell. Aber nicht schnell genug. Und dann habe ich plötzlich Zeit, meinen Kopf zu drehen, nach links. Donnergrollen, neben mir, nicht am Himmel. Dann noch ein Geräusch, langgezogen, laut, wunderschön, mein Schrei. In diesem Augenblick wird er zu einem kreischenden, schrecklichen Ton. Kräftiger Donner, ein schwarzer Blitz und der Schrei verstummt. Das Gewitter ist vorbei.

 

Ich weiß nicht, was als Nächstes passiert ist. Aber es muss geregnet haben, denn ich sehe einen Regenbogen. Einen Regenbogen aus allem und nichts. Zu viel und doch zu wenig. Und das alles erkenne ich, weil ich in diesem Moment dem Leben ins Auge blicke. Ein wunderschönes farbiges Auge, das aus Bildern besteht. Wie Blätter im Wind wehen sie vor mir, um mich herum. Und doch bekomme ich keines zu fassen. Das Auge des Lebens blinzelt, oft. Zu oft. Die Abstände zwischen den einstmals blitzschnellen Bewegungen werden kürzer, für kleine Momente wird es dunkel. Die langen Wimpern des Lebens streicheln mich sanft, versuchen scheinbar, mich zu trösten. Doch ich brauche keinen Trost, es ist schön hier. Ich weiß nicht einmal, was passiert, wo das Gewitter bleibt. Da beginnt das Licht im Auge zu verblassen. Es wird kühl, farblos. Es stirbt. Sterben. Was bedeutet Sterben, frage ich mich verzweifelt. Tod, das heißt es. Die Farben werden durchscheinender. Und da verstehe ich wieder etwas. Eine einzige Sache. Du kannst dem Tod nicht ins Auge blicken, denn wenn das Leben seines erst mal schließt, dann siehst du gar nichts mehr. Langsam senkt sich das Augenlid herab, sehr langsam. Der Blick wird traurig, die Leere kalt. Ich spüre etwas Nasses, angenehm Kühles. Zuerst glaube ich, es sei das Leben, das seine letzten Tränen weint, um mich. Doch es sind meine eigenen. Die Wimpern des oberen Augenlids streifen die des unteren. Klammern sich aneinander fest, umarmen sich. Sie müssen sich nie wieder trennen, das Leben hat sein Auge geschlossen. Und dann geht das Licht aus.